Als unsichtbares, aber allgegenwärtiges Element prägt Luft das Leben und die Umwelt. Sie überträgt Geräusche, Gerüche und Schwingungen, bewegt sich in Winden und ist essenziell für das Leben auf der Erde. Das Festival CURRENT – KUNST UND URBANER RAUM untersucht, wie Luft die Stadt Stuttgart durchströmt und prägt. Künstler*innen sind eingeladen, die Bedeutung der Luft in urbanen, historischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu erforschen. Die Projekte werden an verschiedenen Orten präsentiert, vom Pragsattel über den Hauptbahnhof und Marienplatz bis hin zum ehemaligen Luftkurort Degerloch. CURRENT folgt den Luftströmungen durch die Stadt und nutzt Luft als narratives, ästhetisches und künstlerisches Element.
In Zeiten von Luftverschmutzung, Klimakrise und Pandemien ist Luft in den sozialen und politischen Fokus gerückt. Das Festival stellt Fragen nach Lebensqualität, sozialer Gerechtigkeit und gemeinsamer Verantwortung, lokal wie global und basiert auf queer-feministischen Sichtweisen. Die Herausforderung besteht darin, Luft als kollektives Gut zu bewahren und für alle zugänglich zu machen. Im Sommer 2025 werden Künstler*innen mit Installationen, Performances, Interventionen, Videoscreenings, Walks und Lesungen das Unsichtbare sichtbar machen. Sie folgen den Luftwegen und laden das Publikum ein, die Bedeutung und Wirkung von Luft neu zu entdecken und zu reflektieren.
Drei Themenfelder gliedern das Festival und heben unterschiedliche Aspekte der Luft abwechselnd in den Vordergrund.
Driving, Dreaming, Drifting
Mit dem Schwerpunkt Driving, Dreaming, Drifting wird der Einfluss des Autos auf Umwelt und urbanen Architektur beleuchtet. Urbane Räume selbst werden durch Emissionen, Feinstaub und Hitze verändert, wodurch Luft zur politischen Akteurin wird: als Trägerin von Schadstoffen, als Indikatorin sozialräumlicher Ungleichheit und als Medium, das ungleiche Mobilitätsverhältnisse sichtbar macht.
Gleichzeitig basiert die Konzeption des öffentlichen Raums meist auf binären Denkmustern, die auf Ausschlussmechanismen und sozialen Hierarchien aufbauen. Das Auto steht dabei sinnbildlich für Individualisierung, Besitz und Kontrolle. In diesem Zusammenhang verweist der Begriff Petromaskulinität auf die enge Verflechtung von fossilen Energien, patriarchalen Strukturen und maskulin geprägten Dominanzverhältnissen.
Durch queer-feministische Ansätze, die auf Fluidität, Körperlichkeit, Aneignung patriarchaler Systeme und Vorstellungen, sowie kollektive Teilhabe setzen, eröffnen die künstlerischen Beiträge neue Möglichkeiten, Mobilität und öffentliche Räume gerechter und inklusiver zu imaginieren. Es werden Fragen nachgegangen, wie: Reproduziert die Mobilitätswende bestehende, maskulin geprägte Dominanzverhältnisse, oder schafft sie neue Möglichkeiten für eine gerechtere Gestaltung urbaner Räume? Inwiefern sind Auto und Luft als Trägermedien von Macht, Kontrolle und sozialer Ungleichheit miteinander verknüpft? Die künstlerischen Arbeiten fordern dazu auf, Machtverhältnisse kritisch zu hinterfragen und alternative Perspektiven zu entwickeln.
Luft als Gemeingut: Reclaim Air
Mit Luft als Gemeingut: Reclaim Air stellt CURRENT den Aspekt der Commons (Gemeingüter) in den Vordergrund und untersucht, wie Luft sich territorialer Abgrenzungen und individueller Aneignung entzieht. Meist wird Luft als selbstverständlich und gegeben betrachtet, erhält im öffentlichen Diskurs weit weniger Beachtung als beispielsweise Wasser. Im Kontext der Klimakrise, wachsender Umweltbelastungen und Atemwegserkrankungen, rückte Luft verstärkt in den gesellschaftlichen und politischen Fokus. Als omnipräsenter Bestandteil des urbanen Raums wirft Luft zentrale Fragen nach Zugang, Verteilungsgerechtigkeit und Verantwortung auf: Inwiefern kann Luft als öffentlicher Raum verstanden werden? Wer trägt die Verantwortung für die Qualität dieses Raumes? Wie beeinflusst die Luftqualität den Körper und sein Wohlbefinden?
Die Auseinandersetzung mit Luft als Gemeingut erfordert einen transdisziplinären Ansatz, der ökologische, gesellschaftspolitische und infrastrukturelle Dimensionen miteinander verbindet. Emissionen, Schadstoffverteilungen und Umweltungerechtigkeiten sind eng mit Luftqualität verknüpft und werfen wichtige Fragen zur Verantwortung und den gesellschaftlichen Folgen auf. Ein spannendes Beispiel liefert die Architektin Nerea Calvillo: Sie zeigt aus queer-feministischer Perspektive, dass Luftverschmutzung keine objektive Tatsache ist, sondern gesellschaftlich definiert wird. Am Beispiel von Pollen – zugleich natürlich und potenziell gesundheitsschädlich – verdeutlicht sie, dass Umweltprobleme auch soziale Machtverhältnisse darstellen. Diese Ambivalenz verdeutlicht, dass „natürlich“ und „schädlich“ nicht klar trennbar sind.
Künstlerische Vorschläge und Spekulationen thematisieren im Festival die sozialen und politischen Implikationen von Luft. Sie erkunden die Verbindung zu menschlichen und nichtmenschlichen Körpern, beschäftigen sich mit dem Einsatz von Nebel im Kriegskontext, bieten Atemwegsübungen an, erschaffen eine Polyphonie des Kampfes um saubere Luft für alle und gehen einer Neudefinition von Luft als öffentlicher Raum nach.
Materializing Air
Mit Materializing Air geht CURRENT den materiellen Qualitäten der Luft nach. Als komplexes Gemisch aus Sauerstoff, Stickstoff und weiteren Gasen bildet Luft einen essenziellen Bestandteil der Biosphäre und ist unverzichtbar für das Leben auf der Erde. Als physische Substanz besitzt Luft spezifische materielle Eigenschaften: Sie transportiert Geräusche, Gerüche, Temperatur und Partikel. Luft manifestiert sich unter anderem in Form von Schaum, lässt Bäume biegen, kühlt Städte und trägt Pollen, Staub und andere Schwebstoffe. Luft beeinflusst nicht nur physikalische Phänomene, sondern auch soziale und politische Prozesse. Im digitalen Zeitalter gewinnt Luft zudem eine neue Bedeutung als Trägermedium immaterieller Datenströme. Die sogenannte „Cloud“ steht nicht nur für digitale Speicher- und Verarbeitungsinfrastrukturen, sondern fungiert zugleich als Metapher für die Entkopplung von Daten vom physischen Raum. Tatsächlich beruhen diese Prozesse jedoch auf konkreten, raumgreifenden Infrastrukturen – von Rechenzentren über Satellitennetze bis hin zu drahtlosen Übertragungsfrequenzen, die durch die Luft zirkulieren.
Luft ist auch ein Medium des Austauschs zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen: Sie verbindet, trennt, verteilt und transformiert. Pflanzen nutzen sie zur Photosynthese, Insekten zur Fortbewegung, Pilzsporen zur Verbreitung. Gleichzeitig reflektieren Umweltverschmutzung, Klimawandel und atmosphärische Veränderungen die Wechselwirkungen zwischen technologischem Fortschritt und ökologischer Verantwortung. Wie wird Luft wahrgenommen, wenn sie als Material bewusst gestaltet oder manipuliert wird? Welche Rolle spielt Luft in der Wahrnehmung und Gestaltung von Räumen und Grenzen? Wie können künstlerische Interventionen die Unsichtbarkeit von Luft und ihren Einfluss auf Umwelt und Gesellschaft erfahrbar machen? Und welche neuen Verbindungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen entstehen durch diese Auseinandersetzung mit Luft als Material?
Künstlerische Interventionen im Festival thematisieren die Formbarkeit und Wirkung von Luft, um ihre soziale, politische und ökologische Bedeutung erfahrbar zu machen. Sie verbinden sinnliche Wahrnehmung mit kritischer Reflexion und machen so die unsichtbaren Dynamiken von Luft in Umwelt und Gesellschaft sichtbar.